Kastanien
Spezialitäten
Über Jahrhunderte hinweg galt die Kastanie im Tessin als Grundnahrungsmittel. Das Sammeln der Früchte war Gemeinschaftsarbeit und hatte oberste Priorität. Viele Familien waren im Winter auf eine ausreichende Ernte angewiesen. Die Kastanien liessen sich sowohl frisch als auch in allen möglichen Verarbeitungsformen verspeisen. Durch Trocknung werden sie haltbar gemacht. Zwar hat die Kastanie ihre Bedeutung als Grundnahrungsmittel verloren. Doch ihr süsslich-nussiger Geschmack findet wieder Einzug in die Tessiner Küche. Neu gastronomische Spezialitäten entstehen. Kastanienhaine werden neu aufgewertet, sie werden zu einer Art Touristenattraktion und es entsteht ein Inventar der monumentalen Kastanienbäume.
Die Kastanien in der Tessiner Landwirtschaft
Für das ländlich geprägte Tessin der vergangenen Jahrhunderte war die Kastanie ein wichtiges Grundnahrungsmittel. Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts kam die Baumfrucht häufig zu zwei Mahlzeiten am Tag auf den Teller, denn im Winter stand vielen Familien nichts anderes zur Verfügung. Nach der Ernte im Herbst ass man die Kastanien gekocht oder auf dem Feuer gebraten. Um sie aber über einen längeren Zeitraum haltbar zu machen oder Mehl herzustellen, mussten sie getrocknet werden. Dies erfolgte in extra für diesen Zweck errichteten Räucherhäuschen, den so genannten „grà“ oder „graa“ (siehe Text unten). Doch nicht nur die Frucht, sondern auch der Baum selbst hatte für die Tessiner einen hohen Nutzwert: Die getrockneten Blätter dienten als Viehfutter im Stall, Stamm und Äste eigneten sich als Brennholz und wurden als Baumaterial für Stützpfähle, Möbel und Werkzeuge eingesetzt. Die Kastanienhaine waren kostbar und wurden mit sehr viel Aufwand gepflegt. Gemeinden und Patriziate erliessen klare Regeln für den Anbau der Bäume. So war es üblich, verschiedene Sorten anzupflanzen, damit die Kastanien in unterschiedlicher Weise verarbeitet werden konnten. Vom Tessin aus zogen Maroniverkäufer los, die so genannten „maronatt“, die im Winter ihre Ware in Italien und Frankreich auf der Strasse anboten.
Die Kastanie heute
Die Kastanie hat ihre Rolle als „Brotbaum der Armen“ längst verloren. Der wirtschaftliche Aufschwung im Tessin, die Abwanderung der Menschen aus den Tälern und der Rückgang des Weide- und Ackerbaus veränderte den landwirtschaftlichen Bedarf und die Essgewohnheiten der Tessiner. Doch die Kastanie erlebt derzeit einen kleinen Wiederaufschwung. Aus traditionellen Gründen, in Erinnerung an die Rolle der Kastanie in der Tessiner Küche in den vergangenen Jahrhunderten, gibt es viele Bemühungen für eine Aufwertung des Baumes. Im Jahr 1999 gründete sich die „Vereinigung der Kastanienbauern der italienischen Schweiz“. Ihr Ziel ist es, Geschichte, Kultur, Anbaumethoden, Verbrauch und Handel von Kastanien populärer zu machen und für die Ernte zentrale Sammelstellen zu organisieren. Von staatlicher Seite wird zudem ein Inventar aller Riesenkastanien im Tessin und Misox erstellt sowie die Wiederherstellung einiger alter Haine gefördert. Mit thematischen Wanderwegen, wie dem „Sentiero del castagno“ im Malcantone und der „Sentée da l’albur“ im Menrisiotto soll die Kastanie touristisch genutzt werden.
Auch die Gastronomie hat die Maroni wiederentdeckt. Sie sind wichtige Zutat bei den alljährlichen Gastrowochen im Herbst und liegen weiteren Produkten zugrunde, wie Bier, Flakes, Eis, Tagliatelle, Mehl, Likör und Honig. Die zahlreichen Kastanienfeste in den Dörfern des Tessins (Ascona, Muggiotal und andere) sind in jedem Herbst ein beliebter Anziehungspunkt für Tessiner und Touristen.
Die Ladung des „grà“
Als Sehenswürdigkeit gilt auch die Ladung des „grà“ in einigen Gemeinden, darunter Moghegno im Maggiatal, Cabbio im Muggiotal und Vezio im Malcantone. In den typischen Räucherhäuschen werden die Kastanien auf einem Rost über einem Feuer mehrere Wochen langsam getrocknet und haltbar gemacht.
Rundgang: Der Kastanienweg im Malcantone (5 St., Karte)
Im Malcantone lädt ein Themenwanderweg rund um die Kastanie dazu ein, Naturerlebnis mit Weiterbildung zu kombinieren. Der ausgeschilderte Pfad liegt auf 750 bis 800 Metern Höhe, ist 15 Kilometer lang und verläuft durch die Ortschaften Arosio, Mugena, Vezio, Fescoggia und Breno. Die Strecke ist ganzjährig leicht zu laufen und lässt sich in etwa fünf Stunden zurücklegen. Wer nur einen kleinen Abschnitt wandern möchte, kann das von jedem Ort aus tun. Bei dem Ausflug durch die herrliche Landschaft lässt sich viel über die Umgebung lernen. Ins Auge fallen die architektonischen Besonderheiten der Wohnhäuser im Malcantone. Der Wanderweg führt vorbei an der Kirche San Michele in Arosio (mit Sonnenuhr des 17. Jahrhunderts und Fresken von Antonio da Tradate des 16. Jahrhunderts) sowie an dem „metato“, dem Räucherhäuschen, zwischen Mugena und Vezio. Infotafeln im Wald geben Auskunft über die verschiedenen Kastanienarten und ihren Anbau.
Der Prospekt „Themenwege“ kann von Internet heruntergeladen werden (Download PDF).
Spaziergänge unter Kastanienbäumen
Auch an anderen Orten lässt es sich herrlich unter Kastanienbäumen spazieren gehen. Dazu gehören der Hang über Biasca (der Pfad, der bis zum Wasserfall von Santa Petronilla führt), der Berg von Monte Carasso (Curzútt), das Muggiotal („Sentée da l’albur“ zwischen Morbio Superiore, Caneggio und Bruzella) und Capriasca („Parco del castagno“ in Ponte Capriasca und Umgebung).